16.03.2021 - Mirjam Bächtold
Neues Bein - Neues Leben
Ein enormes Geschenk, plötzlich wieder gehen zu können.
Der Appenzeller Simon Koller hat in seinem Zivildienst sieben Monate in Varanasi in Indien gearbeitet. Dort hat er für Kinder mit einer körperlichen Beeinträchtigung Orthesen und Prothesen hergestellt. Für viele war es ein enormes Geschenk, plötzlich wieder gehen zu können.
Eigentlich wollte Simon Koller Informatiker werden. Er hatte bereits eine Lehrstelle, als er als Oberstufenschüler die Berufsmesse in Appenzell besuchte. Dort wurde der Beruf des Orthopädisten vorgestellt. «Ich wollte gar keine neuen Berufe mehr kennenlernen und trotzdem machte mich dieser Beruf neugierig», erzählt Simon Koller. Schliesslich fand er ihn so spannend, dass er nicht die Lehrstelle als Informatiker antrat, sondern bei spiess + kühne in St. Gallen die vierjährige Lehre zum Orthopädisten begann.
«Mich fasziniert der Mix aus Technik, Gesundheit und Kontakt zu den Patienten», sagt der 22-Jährige. Ein Orthopädist fertigt Prothesen und Orthesen (Hilfsmittel wie Schienen) auf Mass an. Für eine Prothese macht er gleich nach der Amputation eine Kompressionstherapie, bis der Stumpf nicht mehr geschwollen ist, dann macht er einen Gipsabdruck, fertigt ein Modell an und schliesslich die Prothese. «Der Beruf ist sehr abwechslungsreich, weil jede Prothese nach Mass gefertigt wird. Auch das gefällt mir», sagt Koller. Ausserdem sei er gerne handwerklich tätig.
Benachteiligung und Diskriminierung
Über seine Arbeit in St. Gallen erfuhr er vom Kiran Village in Indien, wo es ebenfalls eine Orthopädietechnikwerkstatt gibt. Das Village besteht aus knapp 50 Gebäuden, es ist eine Grundschule für rund 400 Kinder von denen etwa zwei Drittel eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben. Simon Koller erfuhr auch von der Möglichkeit, seinen Zivildienst in diesem Village zu absolvieren.
Von Oktober 2018 bis April 2019 war er dort im Einsatz. Das Kiran Village befindet sich in Varanasi, Indiens heiligster Stadt für Hinduisten. «In Indien werden Menschen mit einer Beeinträchtigung oft diskriminiert. In einer Familie bekommen etwa die eigenen Kinder weniger zu essen, wenn sie eine Beeinträchtigung haben», erzählt Simon Koller. Im Kiran Village soll die Chancengleichheit gefördert werden. Kinder ohne Beeinträchtigung helfen den anderen. In der Orthopädietechnikwerkstatt werden auch Menschen mit Beeinträchtigung ausgebildet.
Hier hat Simon Koller hauptsächlich Orthesen angefertigt. Die häufigste Beeinträchtigung, unter der die Kinder litten, war Polio oder Kinderlähmung. Bei dieser Krankheit, die in Europa seit 2002 nicht mehr vorkommt, können Muskelschwund oder Gelenkfehlstellungen auftreten. «Mit Schienen versteifen wir die Beine, damit die Kinder sie wieder belasten und laufen können», erklärt Koller. Auch die Cerebralparese (CP) sei eine häufige Krankheit, die Bewegungseinschränkungen bis Lähmungen hervorruft. Einigen Kindern könne man mit einer Fusshebeschiene helfen, andere brauchten einen Rollstuhl.
Freude ist riesig
Ab und zu musste Simon Koller auch Prothesen anfertigen. Die häufigste Ursache für Amputationen war die periphere arterielle Verschlusskrankheit. «Wenn die Durchblutung nicht mehr gut ist, können Verletzungen, etwa am Fuss, nicht mehr gut heilen und es kommt zu Infektionen», erklärt der Orthopädist. Einmal fertigte Koller eine Beinprothese für ein Mädchen an, das schon mehrere Jahre mit nur einem Bein zurechtkommen musste. «Ich passte ihr die Prothese an und sagte ihr, sie solle sie draussen ausprobieren und ein paar Schritte machen», erzählt Simon Koller. Das Mädchen kam zwei Stunden lang nicht mehr zurück, so sehr freute es sich darüber, wieder gehen zu können, dass es einen langen Spaziergang machte.
«Es ist schön, Menschen helfen zu können. Viele lebten schon jahrelang mit der Beeinträchtigung und für sie ist es, als hätten sie ein neues Leben bekommen mit der Prothese.»
Krankheiten vermeiden
Seit Sommer 2020 studiert Simon Koller nun in Biel Medizininformatik. Der Beruf des Orthopädisten gefällt ihm zwar nach wie vor, doch er will sich noch weiterbilden. Im dreijährigen Bachelorstudium lernt er, Software für das Gesundheitswesen zu programmieren. Damit hofft er, dass Krankheiten in Zukunft vermieden werden können.
Originalbericht: Appenzeller Volksfreunde
Text: Mirjam Bächtold